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„Epochales Ereignis“

IHK-Online-Diskussion über das Verhältnis zu China: Buch-Autor Frank Sieren betont Bedeutung des Starts der größten Freihandelszone der Welt.

München (10.12.2021) - Der IHK ist mit der Besetzung ein echter Coup geglückt: Für das China-Fachgespräch am 1. Dezember hatte man Frank Sieren als Referenten gewonnen. Der Bestsellerautor, Korrespondent und Dokumentarfilmer gilt als der führende deutsche Chinakenner. Stoff für das 90-minütige Gespräch gab es mehr als genug. Aktuell beschäftigen sich die deutschen Medien mit der Frage, ob und wie die kommenden Olympischen Winterspiele in Peking im Februar 2022 zu boykottieren seien. Heftig diskutiert wird zudem, ob Werte oder Profit für das Geschäft mit China entscheidend seien.

Corona, Lieferketten und die Neue Seidenstraße

Frank Dollendorf, Bereichsleiter International, Industrie, Innovation der IHK, hatte nach eigenen Angaben „einen Waschzettel“ zum Gespräch mitgebracht – darauf standen u.a. die Themen CO2-Grenzausgleich, das Gesetz zur Lieferkettensorgfaltspflicht, Einreisebestimmung zu Corona-Zeiten, der ewige Streitpunkt Taiwan und Chinas Mega-Projekt Neue Seidenstraße.

Und nicht zuletzt gibt es in Deutschland eine neue Bundesregierung. Die künftige Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und der kommende Finanzminister Christian Lindner (FDP) hatten im Vorfeld der IHK-Veranstaltung eine „härtere Gangart“ gegen China angekündigt, allerdings liegt traditionell das Thema China in der Kompetenz des Kanzleramtes. 

Dollendorf stieg in das Gespräch ein mit einem bedrückenden Vergleich: Die IHK sei wegen der laufenden vierten Corona-Welle gezwungen, dieses China-Gespräch im Online-Modus zu veranstalten. Nach Ansicht Dollendorfs spiegeln sich auch in den Infektionszahlen die Machtverhältnisse wider. Die Inzidenz lag in Bayern am 1. Dezember bei 583, in China bei 0,004.

Chinas Zero-Covid-Strategie

Stephanie Spinner-König, Vorsitzende des IHK-Außenwirtschaftsausschusses und Aufsichtsrätin der Spinner GmbH, sagte, sie sei Betroffene der chinesischen „Zero-Covid“-Strategie. Sie unterhalte einen Betrieb in China. Ihr Geschäftsführer habe den seit zwei Jahren nicht mehr von innen gesehen.

Die Unternehmerin erklärte, auch die politische Großwetterlage bereite Sorgen. Die Spannungen zwischen den USA und China beschäftigten jedes international tätiges Unternehmen. „Da müssen wir sehr alert sein“, meinte Spinner-König.

Christian Madsen, Stellvertretender Vorsitzender des IHK-Außenwirtschaftsausschuss, ist bei Siemens Head of Government-to-Government und Government Affairs. Er betonte die Bedeutung, die China für den Münchner Großkonzern habe.

Christian Haug, Mitglied im IHK-Außenwirtschaftsausschuss und Geschäftsführer der Startup Factory, kritisierte, in Deutschland sei die öffentliche Wahrnehmung in erster Linie von Furcht vor China geprägt. Die Diskussion mit Frank Sieren, sei die seltene Chance, sich ein umfassendes Bild von der Realität in China zu machen, von einem der seit 27 Jahren vor Ort lebt.

Mit China sprechen

Und Sieren nahm den Ball gerne auf. Seiner Einschätzung nach leidet die deutsche China-Debatte unter geostrategischer Blindheit. Während der Westen noch glaubt, die globalen Spielregeln bestimmen zu können, wird China immer mächtiger. Die Coronakrise verstärke den Trend noch. Themen wie Klimawandel oder Digitalisierung lassen sich bereits nicht mehr ohne China diskutieren und umsetzen. China habe zudem noch viel Spielraum nach oben: Das Prokopf Einkommen habe erst das Niveau von Rumänien. Und die Ende vergangenen Jahres gegründete asiatische Freihandelszone RCEP, die größte der Welt, biete noch großen Spielraum den internationalen Handel auszuweiten. Übrigens auch für deutsche Firmen, die in China für Asien produzieren.

Chinas Orientierung in Richtung Asien, sei eine direkte Konsequenz der verfehlten Politik des ehemaligen Präsidenten Donald Trump. Auch die globale Chipkrise gehe auf sein Konto. „Er hat dazu beigetragen, dass sich die Verlagerung des Machtschwerpunktes der Politik und der Wirtschaft in Richtung Asien mit dem Zentrum China noch beschleunigt.“ Jahrhunderte lang sei die Minderheit des Westens, erst Europa, dann die USA, in der Lage gewesen die Spielregeln für die Mehrheit der Welt zu bestimmen. „Diese Epoche neigt sich nun dem Ende zu.“ Der Einfluss des Westens schwinde.

 Die Alternative für Europa lautet nun nicht etwa Wirtschaft oder Werte. „Denn nur, wenn wir wirtschaftlich stark und innovativ sind, werden wir  noch an den Tisch gebeten, wenn es darum geht, die Werte der neuen multipolaren Weltordnung auszuhandeln“, warnte Sieren. Und wirtschaftlich stark könne Europa nur mit und nicht etwa gegen oder ohne den Wachstumsmarkt China sein.

„Zudem trägt fast jede Investition deutscher Unternehmen in China dazu bei, dort auch unsere Werte zu implementieren“, meinte der China-Fachmann. Man müsse allerdings hierzulande akzeptieren, dass ein Riesenland wie China einfach Zeit für den Wandel brauche. Christian Haug bestätigte das. „In China werden bereits anständige Löhne bezahlt. Wir sind Teil dieser Gesellschaft und wollen zu ihrer Entwicklung beitragen“, erklärte Haug.

Große Frustration

Sieren äußerte großes Verständnis für viele deutsche Unternehmen, die über die chinesische 0 Prozent Corona Politik „extrem frustriert“ seien. Niemand wisse, wann sich China endlich wieder für Geschäftsreisende öffne. Allerdings seien es vor allem die „erschreckenden“ Entwicklungen der 4. Welle in Deutschland, die eine Änderung der Politik für Peking schwierig machen.

Medienberichte über chinesische Überschuldungsrisiken bezeichnete Sieren ebenso als übertrieben wie Warnungen vor dem Platzen einer chinesischen Immobilienblase. „Die Fundamentaldaten sind gut. China wird weiter wachsen, dann es hat praktisch keine Auslandsschulden und einen Handelsbilanzüberschuß von über 70 Milliarden US-Dollar allein im November“, sagte Sieren.

Schwierig für den Westen zu verstehen, seien jedoch die Widersprüche der chinesischen Politik: „Immer mehr politische Kontrolle auf der eine Seiten, immer mehr Freiheit für Innovation auf der anderen“, so Sieren. Dies sei eine Folge von politischen Fehlern, die bis in 19. Jahrhundert zurückreichen. Damals habe China aus einer Mischung von Überheblichkeit und Lethargie, die industrielle Revolution Europas übersehen, sei dadurch in ein wirtschaftliche Schieflage geraten und die Politik habe schließlich die Kontrolle verloren. 150 Jahre schwierige Jahre folgten. „Heute tun Politiker alles, um sicherzustellen, dass das nicht noch mal passiert. „Aber irgendwann wird sich auch Peking für mehr Kontrolle oder mehr Innovation entscheiden müssen. „Und da es Fortschritt nur mit Innovation gibt, ist die Richtung eigentlich klar.“

Keinen Rat für Außenministerium

Frank Dollendorf stellte Sieren die heikle Frage, welche Tipps er den der künftigen Außenministerin Baerbock geben würde. „Keinen“, antwortete Sieren geschickt, denn das Thema China sei traditionell im Kanzleramt angesiedelt. Insofern müsse man mit dem neuen Kanzler Olaf Scholz (SPD) darüber sprechen.

Sieren riet als Fazit der deutschen Politik und Wirtschaft dringend dazu, die Welt auch aus chinesischer Perspektive zu sehen, um Europa besser in der neuen Weltordnung positionieren zu können und seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Man müsse sich allmählich abgewöhnen, das Verhalten anderer Länder nur mit europäischen Wertmaßstäben zu messen. „Das ist postkoloniales Denken. Diese Zeiten sind endgültig vorbei.“

(Quelle: Martin Armbruster, IHK München für Oberbayern)