Diese Meldung stammt aus dem Archiv. In archivierten Meldungen sind möglicherweise nicht mehr funktionierende Links zu anderen Websites enthalten. Die Redaktion übernimmt keine Gewähr für die Funktionalität der Links.
Zweimal im Jahr erstellen führende deutsche Wirtschaftsforschungsinstitute für die Bundesregierung die sogenannte „Gemeinschaftsdiagnose“ als Konjunkturanalyse und -prognose. Eines der beteiligten Institute ist das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Wir sprachen anlässlich des Herbstgutachtens mit dem stellvertretenden Präsidenten des IWH, Professor Oliver Holtemöller, über aktuelle außenwirtschaftliche Themen.
Zunächst einmal sollte man klären, von welcher Größenordnung wir hier sprechen. Wie viele von den 900.000 in diesem Jahr erwarteten Flüchtlingen werden überhaupt dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen?
Wir gehen davon aus, dass das BAMF [Bundesamt für Migration und Flüchtlinge] diese Fälle alle gar nicht so schnell entscheiden kann, sondern nur etwa 275.000 in diesem Jahr. Auf diese Zahl kann man dann die Schutzquote anwenden, also den Anteil geduldeter Personen und genehmigter Asylanträge. Für beide Gruppen zusammen lag dieser Teil in der ersten Jahreshälfte bei etwa 36,7 Prozent. Die Quote dürfte steigen, weil durch den größeren Anteil von Syrern die Zahl der Anerkannten höher sein wird. Im Moment rechnen wir für das laufende Jahr mit einer Quote von knapp 40 Prozent. Wenn man diese nun auf die 275.000 Asylentscheidungen anwendet, muss man als nächstes wissen, wie alt die Personen sind. Hier können wir nur Zahlen aus der Vergangenheit extrapolieren, demnach wären rund 75 Prozent im erwerbsfähigen Alter. Wir sprechen also insgesamt von einer Größenordnung von 100.000 zusätzlichen Personen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden, wenn man berücksichtigt dass auch ein kleiner Teil derjenigen Asylbewerber, über deren Antrag noch nicht entschieden wurde, bereits arbeitet. Dem gegenüber stehen 570.000 offene Stellen, das IAB [Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung] geht sogar von 1,1 Millionen offener Stellen in Deutschland aus. Das heißt, der Bedarf ist riesig.
Es kommt dann aber noch darauf an, ob das „Matching“ stimmt. Wir wissen aber nur sehr wenig über die Qualifikation der Flüchtlinge; es dürften allerdings im Moment nicht die Ärmsten kommen, denn die haben schlicht nicht die finanziellen Mittel für die Flucht.
Sie merken, es ist alles noch total unsicher.
Die Zuwanderung nach Deutschland eröffnet auch Chancen; ob wir sie nutzen können, hängt davon ab, ob die Integration gelingt. Wir sollten davon ausgehen, dass es kurzfristig Anpassungsfriktionen geben wird. So dürften in einigen Bereichen die Löhne langsamer steigen, nämlich für solche Tätigkeiten, für die jetzt mehr Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Langfristig können jedoch die Vorteile überwiegen. Individuelle Verlierer sind aber auch möglich, diese müssen von der Gesellschaft mitgenommen werden.
Wichtig ist es aber, dass wir erst einmal Geld in die Hand nehmen müssen, um die Situation langfristig für uns zu gestalten. Das Zentrale ist der Erwerb der Sprache für die Flüchtlinge. Auch über bürokratische Hemmnisse müssen wir nachdenken, etwa was die Anerkennung von Abschlüssen anbelangt, für Personen, die durch die Flucht teils keine Papiere mehr haben.
Wir brauchen weiter Handelsliberalisierung, es ist empirisch und theoretisch klar, dass dies wirtschaftlich Vorteile bringt. Eine andere Frage ist, ob TTIP vorwiegend Handelsliberalisierung bringt.
Die beste Lösung wäre, wir kämen im DOHA-Prozess weiter. Doch wenn das stockt, wie derzeit, muss man eben auf die bilaterale Ebene ausweichen.
Ein solches Handelsabkommen mit den USA wird direkte positive Effekte für Europa haben. Es wird allerdings vermutlich negative Auswirkungen haben für diejenigen, die nicht bei dem Abkommen dabei sind, wie beispielsweise die Türkei. Denn die relative Position solcher Länder zu Europa verschlechtert sich dadurch.
Doch das ist vielleicht auch ein gewünschter Effekt. Denn diese Folgen erzeugen einen gewissen Zugzwang, bei der WTO weiterzukommen.
Man kann aus vielen Gründen gegen TTIP sein, aber nicht aus denen, die öffentlich diskutiert werden, denn die sind ökonomisch meist wenig stichhaltig. Die großen Konzerne brauchen TTIP nicht. Von der ganzen Idee und Überlegung her ist TTIP richtig, ob in allen Details, das ist eine andere Frage. Grundsätzlich ist das Abkommen eine vernünftige Sache, noch besser wäre es aber, bei der Handelsliberalisierung über die WTO weiterzukommen.
Rechtsgüter zu schützen ist generell eine gute Sache, das dient gerade auch den KMUs.
Nehmen wir als Beispiel Venezuela, mit der Enteignung der Mineralölfirmen durch die Regierung. Wenn es keine Rechtssicherheit gibt, investieren die Unternehmen nicht. Die Idee dahinter ist, dass Investoren nicht der Willkür eines Staates ausgesetzt sind. Und diese Grundidee ist richtig. Über die genaue Ausformung kann man freilich diskutieren.
Die Armutsprobleme, die wir in der Welt haben, werden nicht dadurch gelöst, dass wir TTIP nicht abschließen! Sondern entscheidend sind die jeweiligen politischen Systeme. Wie können wir Armut auf dieser Welt lindern? Durch Demokratie und Teilhabe der Bevölkerung. In Demokratien gibt es keine Hungerkatastrophen, diese gibt es nur in nicht demokratischen Regimen.
Quantifizieren kann man das schlecht. Die Exporte nach Russland wurden dadurch natürlich gedämpft. Gesamtwirtschaftliche ist das jedoch nur ein geringes Problem, das wird durch andere Märkte oder andere Produkte aufgefangen. Freilich kann es individuell bei einzelnen Unternehmen eine stärkere Betroffenheit geben.
Sicher ist: die Sanktionen haben ihren Preis. Die Frage lautet, ist der Nutzen größer als diese Kosten? Das ist letztlich eine politische, keine ökonomische Entscheidung
Wir haben eine langsame Erholung, aber weiterhin die Gefahr einer aufflammenden Krise, denn die Ursachen wurden nicht beseitigt, sondern mithilfe der Geldpolitik zugekleistert. Die Ursachen der Krise sind fehlende funktionierende Mechanismen, die zu hohe Schulden, sei es auf privater Seite, sei es im öffentlichen Bereich, verhindern könnten.
Der Raum München und der Raum Greifswald sind auch unterschiedlich und haben eine gemeinsame Währung. Faktoren, die das ausgleichen, sind zum Beispiel Arbeitsmigration oder der Länderfinanzausgleich. Mit einem solchen Finanzausgleich wäre es auch in Europa noch einfacher. Aber das ist derzeit politisch nicht gewollt, unter anderem, weil es andere Nachteile mit sich brächte, etwa durch das Setzen falscher Anreize.
Was wir dringend brauchen, sind glaubwürdige Regeln gegen Überschuldung. Auch die Eigenkapitalausstattung im Finanzsektor, die wir jetzt haben, ist nicht ausreichend. Worüber man auch nachdenken kann, ist eine private Haftung von Bankvorständen.
Ich glaube, dass davon keine so großen Risiken ausgehen. Risikokandidaten sind Länder mit hoher Fremdwährungsverschuldung, wie die Türkei und Südafrika. In den meisten Schwellenländen jedoch ist die Situation anders als früher, es gibt größere Währungsreserven, flexible Wechselkurse und weniger Fremdwährungsverschuldung. Und alle können sich ja vorab ausreichend auf die Zinsanhebung einstellen.
Den Zinsschritt wird es nur geben, wenn die Lage ausreichend gut ist, man könnte eine solche Anhebung also auch als Vertrauenssignal interpretieren. Im September gab es für diesen Schritt aber noch keine Anzeichen, so etwas wird frühzeitig kommuniziert. Wahrscheinlicher wäre er im Dezember.
Es gibt mehrere Kanäle, wie den Handels- oder den Finanzmarktkanal, die tatsächlich kritische Signale senden. Was wir alle gesehen haben, ist der Einbruch der chinesischen Aktienkurse. Davon dürften aber keine allzu großen Gefahren für die internationale Konjunktur ausgehen.
Manche Indikatoren sind aber noch ungünstiger als die offiziellen Zahlen zum BIP. Es gibt aus dem Finanzmarkt VIX abgeleitete Unsicherheitsindikatoren, die - als die Aktienkurse eingebrochen sind - so stark angestiegen sind, wie zu Zeiten der Lehmann-Pleite.
Der Stress auf den Märkten ist derzeit etwa so hoch wie nach 9/11, das ist ein Hemmnis für Investitionen. Solche Unsicherheit ist ein Frühindikator für etwas weniger Dynamik. Besonders rohstoffexportierende Länder sind davon betroffen, Exporteure von Investitionsgütern, also auch Deutschland, hingegen weniger.
Wir sehen es so: China befindet sich im Abschwung. Aber solche Phasen sind normal, in jeder aufholenden Volkswirtschaft. Aber allein der demographische Faktor dürfte ohnehin in China in den nächsten zehn Jahren dämpfend wirken.
Wir haben verschiedene Risiken, die weltwirtschaftlich lauern, die Eurokrise, die Verlangsamung der Entwicklung in den großen Schwellenländern. Aber jede Zeit hat ihre Risiken und Probleme. Es ist das Geschäft von Unternehmern, sich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen und auf Probleme einzustellen. Spezielle Risiken für deutsche Unternehmen sehe ich derzeit nicht.
Wir sehen gerade wieder eine Verschiebung. In den vergangenen Jahren waren die Schwellenländer dynamischer als die fortgeschrittenen Volkswirtschaften, jetzt ist es gerade anders herum. Und in fünf Jahren ist es wahrscheinlich wieder anders herum.