„Der EU-Binnenmarkt ist einzigartig in der Welt. Hier haben sich starke Wirtschaftsstaaten zusammengefunden. Der gemeinsame Rechtsrahmen sorgt für Verlässlichkeit“, sagt Alexander Lau, Leiter der Stabsstelle Europapolitik bei der IHK für München und Oberbayern. Der EU-Binnenmarkt ist Herzstück der Europäischen Union und eine ihrer wichtigsten Errungenschaften.
Unabhängig von den jeweiligen politischen Ausrichtungen ist bei den 27 Mitgliedstaaten Einigkeit entstanden. Fundament des gemeinsamen Markts sind die vier wesentlichen Freiheiten: freier Warenverkehr, Dienstleistungsfreiheit, Personenfreizügigkeit sowie freier Kapital- und Zahlungsverkehr.
Einheitliche, rechtssichere Standards
Für die Wirtschaft ergeben sich aus diesen Freiheiten handfeste Vorteile, die weit über die Vorzüge eines Freihandelsabkommens hinausgehen. Eine Zwischenbilanz zum 30. Jahrestag fragt: Was hat der EU-Binnenmarkt bayerischen Unternehmen konkret gebracht? Und wo liegen die Probleme, die die EU dringend angehen sollte?
„Eine der größten Errungenschaften des EU-Binnenmarkts ist die Einführung einheitlicher und rechtssicherer Standards und Normen“, sagt Markus Ferber (58), EU-Abgeordneter und wirtschaftspolitischer Sprecher der Europäischen Volkspartei (EVP). „Dadurch ist es gelungen, einen freien Warenverkehr in der ganzen EU zu ermöglichen, was sich so vor 30 Jahren niemand vorstellen konnte. Das hat sich auch in schwierigen Zeiten als starkes Rückgrat erwiesen.“
EU-Länder als Bayerns größter Absatzmarkt
Unternehmen können heute innerhalb der EU ihre Waren und Dienstleistungen auf einem Markt mit rund 450 Millionen Menschen verkaufen. Das hat den Handel enorm befeuert. 1993 betrugen die Warenausfuhren in andere EU-Länder 671 Milliarden Euro. Bis 2021 hat sich dieser Wert mehr als verfünffacht – auf mehr als 3,4 Billionen Euro. Die exportorientierte bayerische Wirtschaft profitiert davon besonders. Mit 52 Prozent ging im vergangenen Jahr wieder der größte Teil ihrer Ausfuhren in EU-Mitgliedstaaten.
Bei der ARTiS M. Hartmann GmbH, einem Spezialisten für Corporate Fashion, sind es sogar rund 90 Prozent der Exporte. „Unsere Kunden denken europäischer, Konzepte werden heute europaweit koordiniert“, sagt Geschäftsführerin Marion Hartmann zu den Einflüssen des Binnenmarkts auf ihr Unternehmen. „Wir können dadurch besser planen, besser einkaufen. Davon profitieren beide Seiten.“ Auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nutzt die Firma gewinnbringend. (siehe Unternehmensbeispiel im Kasten unten)
Gerade in jüngster Zeit hat sich gezeigt, wie eng die Mitgliedstaaten des Binnenmarkts zusammengewachsen sind. Ihr koordiniertes Handeln hat entscheidend dazu beigetragen, dass Europa sowohl die Pandemie als auch die Energiekrise infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine bewältigen konnte.
REPowerEU-Plan für gemeinsame Energie
So unterstützt der REPowerEU-Plan die gemeinsame Beschaffung diversifizierter Energiequellen und die beschleunigte Entwicklung sowie den Einsatz sauberer und erneuerbarer Energien. Die Abhängigkeit der EU von russischen fossilen Brennstoffen konnte dadurch verringert werden. „Die Resilienz, selbst große Krisenszenarien zu überstehen, ist für Unternehmen einer der wichtigsten positiven Aspekte des Binnenmarkts“, betont IHK-Experte Lau.
Forderung nach gemeinsamem Onlineportal
Perfekt ist der gemeinsame Markt jedoch nicht: „Es gibt noch einigen Nachholbedarf, gerade was die grenzüberschreitenden Dienstleistungen betrifft“, ergänzt Lau. „Denn hier herrscht noch viel Bürokratie.“ Durch eine Vielzahl unverhältnismäßiger Regulierungen sind die Hürden gerade für kleine mittelständische Unternehmen hoch. Jeder Mitgliedstaat hat eigene Vorschriften und unterschiedliche Formulare wie das A1-Dokument, die oft noch analog mitgeführt werden müssen. „Notwendig wäre ein gemeinsames Onlineportal mit der Möglichkeit, einheitliche Dokumente hochzuladen“, so Lau. Der Verwaltungsaufwand für Bürger und Unternehmen könnte sich dadurch erheblich reduzieren.
Über den Green Deal klimaneutral werden
Damit der Binnenmarkt eine Erfolgsgeschichte bleibt, muss er permanent an aktuelle Anforderungen angepasst werden. Dazu zählen angesichts der Klima- und Energiekrise vor allem der Übergang zu einer umweltfreundlicheren Wirtschaft und die Anpassung an den digitalen Wandel. Mit dem Green Deal hat die EU einen Rechtsrahmen dafür geschaffen, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen.
„Die EU-Industriestrategie gehört zu den Politikfeldern, die für Unternehmen dabei besonders wichtig sind“, sagt IHK-Experte Lau. Sie begleitet die Industrie bei diesem Übergang und soll vor allem auch ihre Widerstandsfähigkeit in Krisenzeiten stärken. Schwerpunkte sind die Verringerung der strategischen Abhängigkeiten der EU in den Bereichen Technologie und Industrie sowie die Beschleunigung des digitalen und grünen Wandels in der Industrie.
Kritisch: Nationale Sonderwege
Ein Hemmnis, das eine Vollendung des Binnenmarkts immer wieder bremst, ist der Nationalismus, der trotz der gelungenen gemeinsamen Krisenbewältigung ebenfalls zu spüren ist. „Die dringendste Herausforderung ist die Tendenz zu einer Rückentwicklung des EU-Binnenmarkts“, warnt denn auch der CSU-Europaabgeordnete Ferber. „Immer mehr Staaten stellen für sich Sonderregelungen auf oder treffen besondere Schutzmaßnahmen. Das schadet Unternehmen wie Verbrauchern und macht große Sorgen. Das sollte verhindert werden.“
IHK-Service: Beratung durch das EEN sowie zu Ländern und Regionen
- Auf der EEN-Bayern-Website gibt es umfassende Informationen, wie das European Enterprise Network (EEN) KMU berät zum Einstieg ins Auslandsgeschäft.
Veranstaltungstipp
„Wir sind alle Europäer geworden“
Unternehmensbeispiel ARTiS M. Hartmann GmbH
„In der EU hält man zusammen. Das hat sich in den letzten Jahren noch verstärkt“, sagt Marion Hartmann (62), Geschäftsführerin der ARTiS M. Hartmann GmbH. Das sei der große Vorteil, den der Binnenmarkt für sie bringt: „Unsere Kunden denken europäischer, Konzepte werden heute europaweit koordiniert“, sagt Hartmann. „Wir können dadurch besser planen, besser einkaufen. Davon profitieren beide Seiten.“
ARTiS mit Sitz in München ist ein Spezialist für Corporate Fashion. Die Agentur entwickelt seit rund 30 Jahren Mitarbeiter- und Funktionskleidung sowie exklusive Merchandise- und Imagekollektionen individuell für jedes Unternehmen. Von der Produktion bis hin zu E-Commerce-Lösungen und Logistik bietet ARTiS alles aus einer Hand. Die Kunden sind überwiegend große deutsche Unternehmen mit europäischen Töchtern, aber auch renommierte Firmen in Österreich, Italien, Frankreich und in den Niederlanden.
Produktion in EU-zurückverlagert
Die Lieferantenstruktur hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert, schon vor Corona verlagerte das Unternehmen die Herstellung aus Fernost zurück in die EU. Produktionspartner sind in Polen, Rumänien, Tschechien, aber auch in der Türkei. „Wir sind damit gut aufgestellt, denn selbstverständlich sind die Geschäfte innerhalb des EU-Binnenmarkts ohne Zollschranken und mit weniger Bürokratie viel reibungsloser abzuwickeln“, betont die Geschäftsführerin.
Vor allem profitiert das Unternehmen von den kürzeren Lieferzeiten. Aus Fernost seien diese derzeit unberechenbar. Dass bei Sonderanfertigungen nun auch kleine Stückzahlen bestellt werden können, bringe dem Unternehmen einen weiteren Vorteil. ARTiS produziert heute rund 90 Prozent für den EU-Binnenmarkt, nur ein kleiner Prozentsatz wird in die USA und in andere Drittländer geliefert.
„Landessprachliche Kommunikation, mehr Spaß“
International sind bei dem Unternehmen nicht nur Kunden und Lieferanten. Auch die rund 20 Mitarbeiter – Experten jeweils in ihrem Fach – kommen aus ganz Europa. „Das verstärkt den Spaß und verbessert die Kommunikation“, sagt Hartmann. „Native Speaking schätzt der Kunde. Die Internationalität unserer Mitarbeiter hat sich als großer Vorteil erwiesen.“ Denn trotz aller europäischer Einigkeit sei der Binnenmarkt ein sehr diverser Markt, lokale Bedürfnisse müssten berücksichtigt werden. „Diese Vielfalt ist schön, das macht den Markt schwieriger, aber auch interessanter.“
„Störfaktoren“
Der Binnenmarkt ist allerdings auch nicht ganz frei von Störfaktoren, sagt die Geschäftsführerin. Dazu gehören beispielsweise die unterschiedlichen Verpackungsverordnungen oder die vielen Regulierungen im Onlinehandel. „Es gibt derzeit wieder die Tendenz, dass jeder sein eigenes Süppchen kocht“, bedauert Hartmann.
► Stichwort EU-Binnenmarkt – Worauf es ankommt
Wichtige Forderungen der IHK-Organisation für einen funktionierenden Binnenmarkt:
- Resilienz und Versorgungssicherheit auch in Krisenzeiten sicherstellen
- Bürokratie abbauen und unnötige Belastungen für Unternehmen vermeiden
- Gewährleisten, dass bestehende Binnenmarktregeln einheitlich angewandt werden
- Ungenutztes Potenzial im Dienstleistungsbinnenmarkt heben
- Wirtschaftliche Dimension der Rechtsstaatlichkeit im Binnenmarkt sicherstellen
Quelle: Magazin 05-06/2023 der IHK für München und Oberbayern