Corona, Suez, Ukraine: Pandemie und Krisen setzen die globalen Lieferketten kräftig unter Druck. Und zwingen immer mehr Unternehmen ihre Beschaffung zu diversifizieren. Idealerweise in Europa. Dabei rückt der Westbalkan in den Fokus.
Beschaffungsmarkt vor der Haustür
Für den deutschen Mittelstand ist die Region ein Beschaffungsmarkt vor der Haustür. Innerhalb von nur 24 Stunden sind die sechs Länder Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien auf dem Landweg erreichbar. In Kombination mit wettbewerbsfähigen Lohnkosten macht das die Region zur attraktiven Alternative zu Fernost. „Bosnien und Herzegowina ist unser China - mit logistischen Vorteilen,“ sagt auch Dr. Ralph Kloth, Leiter strategischer Vertrieb und Marketing bei der EMKA Gruppe. Das Unternehmen ist einer von Europas größten Formenbauern und beschafft schon seit 1988 aus der Region.
Handel mit EU nahezu zollfrei
Die meisten Waren zwischen der EU und dem Westbalkan können dank Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zollfrei gehandelt werden. Auch der Handel innerhalb der sechs Staaten ist aufgrund des Central European Free Trade Agreements (CEFTA) größtenteils zollfrei.
Der Außenhandel blüht seit Jahren auf. Der bilaterale Handel zwischen Deutschland und den sechs Westbalkanstaaten wächst dynamisch: Zwischen 2015 und 2021 legte er nominal um fast 75 Prozent auf rund 14 Milliarden Euro zu. Die Coronapandemie sorgte in 2020 nur für eine kurze Zäsur. Das Vorkrisenniveau ist bereits deutlich übertroffen.
Deutsche Investitionen auf dem Vormarsch
Zudem investieren immer mehr ausländische Unternehmen direkt in der Region. Alleine in Serbien haben sich die jährlichen Zuflüsse deutscher Direktinvestitionen seit 2014 verzehnfacht. Deutsche Unternehmen investieren vor allem im Automobilzulieferbereich. Continental, ZF, Brose oder Bosch sind bereits vor Ort. Und investieren weiter. „ZF macht sehr positive Erfahrungen mit dem Standort Serbien. Die ZF Gruppe will den Standort langfristig entwickeln und zu einem unserer wichtigsten Hubs für Forschung, Entwicklung und Produktion machen,“ sagt Milan Grujić, Geschäftsführer von ZF in Serbien.
Sourcingmöglichkeiten in vielen Bereichen
Gerade in den Bereichen Automotive, Metallverarbeitung, Holz und Möbel, Bekleidung, Landwirtschaft und IT bieten sich Möglichkeiten zum Sourcing. Ausländische Kunden beginnen die Geschäftsbeziehungen meist mit Aufträgen in Lohnfertigung. Sie konzentrieren arbeitsintensive Schritte auf dem Westbalkan. So profitieren die Auftraggeber von günstigen Lohnkosten. Im weiteren Verlauf investieren sie dann in die Qualifizierung des Zulieferers oder die Modernisierung des Maschinenparks. Auch die EMKA Gruppe ist diesen Weg gegangen. Nach der Beschaffung folgten ein Joint Venture und schließlich eigene Betriebe vor Ort. Heute hat das Unternehmen über 1.000 Beschäftige in Serbien sowie Bosnien und Herzegowina.
Eine der Schlüsselbranchen der Region ist die metallverarbeitende Industrie. Über die zahlenmäßig stärkste Metallverarbeitung verfügt Serbien. Diese ist von kleinen und mittleren Betrieben geprägt. Die Exporte der Branche erreichten 2021 über 2,5 Milliarden Euro. Besonders stark ist Serbien dabei in den Bereichen der Autozulieferindustrie, der Herstellung von Werkzeugen und bei Gussprodukten.
Von Massenware bis zum Designerstück
Die international erfolgreiche holzverarbeitende und Möbelindustrie muss sich ebenfalls nicht verstecken. Grundlage dafür ist eine ausgezeichnete Rohstoffbasis. Alleine in Bosnien und Herzegowina sind 50 Prozent der Fläche von Wald bedeckt. IKEA und andere Möbelgiganten nutzen die Region als Beschaffungsmarkt. Aber auch für hochwertige Möbel ist der Westbalkan bekannt: Auszeichnungen wie der Red Dot Design Award gingen schon mehrere Male dorthin.
Das Thema Design spielt auch bei Mode eine wichtige Rolle. Die Bekleidungs-, Schuh- und Lederindustrie hat eine lange Tradition. Heute sind die Länder ein beliebter Standort für die Lohnfertigung. Namhafte Hersteller wie Dolce & Gabbana oder Versace lassen dort produzieren. Die Ausfuhren in Albanien oder auch Serbien durchbrechen dabei jährlich die Marke von 1 Milliarde Euro. Größter Vorteil der Region ist die Möglichkeit, flexibel, hochqualitativ und auch in geringen Stückzahlen produzieren zu können.
Himbeeren für den EU-Markt
Serbiens Landwirtschaft ist regional führend und produziert heute mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Produkte auf dem Westbalkan. In manchen Bereichen gehört das Land sogar zur internationalen Spitze, zum Beispiel beim Anbau von Himbeeren. Rund 60 Prozent aller gefrorenen Himbeeren in der EU stammen aus Serbien. Potenzial besteht hier außerdem im Vertragsanbau. Dabei wird mit lokalen Zulieferern zusammengearbeitet und dann vor Ort oder im Ausland weiterverarbeitet.
Politische Instabilität ist größtes Risiko
Die politische Lage in der Region ist weiterhin komplex. Vor allem in Bosnien und Herzegowina. Dort droht einer der Landesteile, die Republik Srpska, mit Abspaltung. Der Dauerkonflikt zwischen Serbien und Kosovo ist ebenfalls nicht gelöst. Und in Montenegro und Nordmazedonien sind erst zu Jahresbeginn die Regierungen zurückgetreten oder wurden abgewählt.
Dennoch ist das Interesse der politischen Akteure an Investitionen, steigenden Exporten und Beihilfen der EU sehr hoch - und daher genießen diese Priorität. Selbst kleine und mittlere Unternehmen werden massiv unterstützt. In Serbien bemüht sich Präsident Aleksandar Vučić vor allem um deutsche Investoren und lässt es sich nicht nehmen, regelmäßig bei Standorteröffnungen das rote Band zu durchschneiden.
- Weitere Informationen über die interessantesten Lieferbranchen sowie zur Markterschließung inklusive Kontaktanschriften bietet die GTAI-Publikation „Im Fokus: Sourcingchancen auf dem Westbalkan“:
Informationen zu Förderung und Finanzierung Ihres privatwirtschaftlichen Engagements durch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in den Ländern des Westbalkan erhalten Sie auch vom Business Scout beim Außenwirtschaftszentrum Bayern, Herrn Oliver Wagener: business-scout(at)awz-bayern.de / https://international.bihk.de/foerderung-und-finanzierung.html